Wunschkind oder Gotteskind?

„Hauptsache gesund!“ sagen Eltern in spe seit jeher auf die Frage, was „es“ denn werden soll. Die pränatale Diagnostik wirft jedoch weitere Fragen auf: Was meint ihr mit „gesund“?

Vor kurzem wurde eine Studentin an einer amerikanischen Elite-Universität abgelehnt. Sie hatte alle Aufnahmeprüfungen bestanden, der Gentest wies aber eine tödliche Veranlagung aus. Wohlgemerkt: Sie war noch nicht krank. Es bestand lediglich eine mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit, dass sie irgendwann erkranken würde. Das genügte der Universität, sie abzuweisen.

Für Tutanchamun kein Platz mehr?

Ähnlich könnte es in Zukunft anderen ergehen, die sich auf einen Arbeitsplatz oder auf eine Ausbildungsstelle bewerben. Welche Chancen hätten heute der Pharao Tutanchamun, der Maler Toulouse-Lautrec oder der Astrophysiker Steven Hawking? Sie alle waren oder sind durch schwere körperliche Gebrechen gezeichnet. Sie wären vermutlich durch vorgeburtliche Tests verworfen worden, bevor sie ihre einzigartigen Fähigkeiten hätten entwickeln können. Welche Chancen zum Überleben hätten gegenwärtig Contergan-Kinder?
Die Auseinandersetzung mit der Pränataldiagnostik (PD) und der Präimplantationsdiagnostik (PID) hat im Zusammenhang der Stammzelltherapie an gesellschaftspolitischer Brisanz gewonnen. Es geht nicht nur um neue medizinische Techniken oder um interessante Forschungsprojekte, es geht um Recht und Grenzen des „Projekts Moderne“.

Auch wer dazu neigt, die Möglichkeiten der Genforschung und -technik zu begrüßen, wird an schwerwiegenden Fragen nicht vorbeikommen.

Müssen nicht angesichts des enormen Erkenntnisgewinns Gentests für alle Menschen zur Pflicht gemacht werden? Sollte nicht jeder, der einen Gentest durchführen lässt, die Ergebnisse bestimmten Institutionen mitteilen müssen? Oder umgekehrt: Sollte Versicherungen, Behörden oder Betrieben nicht das Recht eingeräumt werden, Gentests zu fordern? Müsste nicht im Gegenzug betroffenen Personen bei einer ungünstigen Diagnose das Recht auf Therapie gewährt werden? Wer entscheidet nach welchen Kriterien darüber, welche Krankheitsrisiken tragbar sind und welche nicht? Tragbar für wen?

Es geht nicht um eine Technik

Für ein begründetes Urteil ist die Reichweite genetischer Analysen zu bedenken. In den seltensten Fällen schaffen Gentests Gewissheit. Mit einem auffälligen Befund hat man in der Regel noch wenig Genaues über die Zukunft der betreffenden Person in der Hand. Einigermaßen sicher ist nur: Sie wird mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erkranken. Niemand weiß, ob und wann die Krankheit ausbrechen und wie genau sie verlaufen wird; niemand weiß, ob die Person nicht längst vorher an einer anderen Krankheit sterben wird. Das gilt auch und gerade mit Blick auf die vorgeburtliche Diagnostik.
Es lohnt, sich bewusst zu machen, dass weite Bereiche dessen, was früher als schicksalhafte Fügung oder als Folge der göttlichen Vorsehung gedeutet wurde, heutzutage als berechenbar, kontrollierbar oder sogar beherrschbar gelten. Der Mensch erlebt sich mehr und mehr als autonomes Subjekt seines Entscheidens und Handelns, die Welt immer stärker als Objekt seines Gestaltungswillens: die Natur, die Gesellschaft, nicht zuletzt sich selbst, den eigenen Körper und das eigene Leben. Daher erscheinen die Bedenken jener Befürworter der Gentechnik nachvollziehbar, die meinen, die Kritik an ihr liefe darauf hinaus, die Errungenschaften der Moderne preiszugeben und den Menschen in der überkommenen Abhängigkeit von höheren Mächten festzuhalten.

Aus dieser Sicht vollenden Genforschung und -technik eine Entwicklung, die sich seit langem angebahnt hat; sie spitzt sich aber jetzt insofern zu, als sich der Gestaltungswille des Menschen auf ihn selbst bezieht. Sie weitet den Bereich elterlicher Verantwortung in bislang unbekannter Weise aus. Wenn es möglich ist, Kinder vor Defekten zu schützen, müssen die Eltern dafür Sorge tragen. Für sie bedeutet die Biotechnik der Zukunft: Verlängerung des Zeugungsaktes, geradezu eine creatio continua in Form pränataler Diagnostik und Therapie.

Zwischen Zeugung und Geburt schiebt sich eine Entscheidung

Diese emphatische Perspektive droht allerdings einen entscheidenden Sachverhalt zu verdecken: Zwischen Zeugung und Geburt eines Menschen schiebt sich eine Entscheidung, die in neuen Möglichkeiten mit zweischneidigen Folgen wurzelt. Auf der einen Seite erhöhen sich die Heilungschancen, zugleich aber wächst die Tendenz, auszuwählen zwischen Menschen, die geboren werden sollen, und anderen, die vorher abgetrieben werden. Damit werden unter der Hand bestimmte Menschen per se zu einem unerwünschten Risiko erklärt. Die Entscheidung, dieses Risiko zu tragen, fällt nicht nur einfach in den Verantwortungsbereich der Eltern; es gerät im Ernstfall unversehens zu ihrer „Schuld“. Wer in Zeiten vorgeburtlicher Diagnostik noch ein erbkrankes Kind zur Welt bringt, ist dann „selbst schuld“; er hat infolgedessen auch sämtliche Lasten und Kosten zu übernehmen, ohne andere zu behelligen. Zur Debatte stehen weniger analytische oder diagnostische Verfahren als solche, sondern mehr die Einstellung des Menschen gegenüber dem Menschen, wie sie durch die neuen Verfahren gefördert wird.

Würde nicht mit Wert verwechseln

Heinrich Böll ist in Sachen Kirche und Christentum ein unverdächtiger Zeuge. Er schreibt: Selbst die allerschlechteste christliche Welt würde ich der besten heidnischen vorziehen, weil es in der christlichen Raum gibt für die, denen keine heidnische Welt je Raum gab: für Krüppel, Kranke, Alte und Schwache, und mehr noch als Raum gab es für sie: Liebe für die, die der heidnischen Welt wie der gottlosen Welt nutzlos erschienen und erscheinen. In modernen Gesellschaften wird manches geleistet, das christlichen Geist atmet, selbst dort, wo christlicher Glaube an Bedeutung verloren hat. Die Wissenschaft hat daran ihren Anteil.

Die moderne Medizin hat ungeahnte Wege zu Hilfe und Heilung eröffnet, und Genforschung, Gentechnik und pränatale Diagnostik werden dieses Spektrum voraussichtlich noch erweitern. Christen können das nur begrüßen. Der christliche Glaube ist weder fortschrittsfeindlich noch ins Leid verliebt. Er fordert allerdings immer dann Einspruch und Widerspruch, wenn bei der Gestaltung der Welt die Würde des Menschen bedroht wird. Nicht wenige halten das für eine Leerformel, eine Art Joker, von der Kirche mit Vorliebe eingesetzt, wenn ihr kein sachlich überzeugendes Argument mehr einfällt. In Wahrheit verhält es sich umgekehrt: Zur ideologischen Sprechblase verkommt die Berufung auf die menschliche Würde durch die Vernünftelei derer, die in ihrem Namen straffreie Sterbehilfe für Todkranke statt bessere Palliativmedizin und mehr Hospize fordern, die Abtreibung menschlicher finden als die Sorge für kranke und behinderte Kinder und ihre Eltern. Die Argumente klingen stets wohlmeinend und einleuchtend, meist sprechen sie von unerträglichem Leid und Mitleid, von Freiheit und Fortschritt, manchmal offen von zu hohen Kosten und zu geringem wissenschaftlichem Nutzen. Immer aber wird die Würde eines Menschen mit dem Wert oder Unwert seines Lebens verwechselt. Mit diesem Fehlurteil ist bereits alles entschieden. Denn Werte hängen von der Bewertungsgrundlage ab, ändern sich mit ihr und können gegen Null gehen. Würde dagegen eignet einem Menschen als Menschen.

Sich das klarzumachen heißt zu begreifen, weshalb menschliches Leben gerade dann des Schutzes bedarf, wenn es scheinbar noch keinen Wert oder keinen Wert mehr hat.

Wer liebt, macht sich kein Bild

Das Gespür für die Unantastbarkeit der Menschenwürde verschwindet nicht schlagartig, beides kommt eher schleichend abhanden – gleichzeitig meist der Sinn für die Liebe. Die Gesellschaft verlernt dann Schritt für Schritt, was Liebe ist, indem sie das Lebensrecht eines Menschen unter den Vorbehalt seines aufweisbaren Wertes stellt, den sie nach Kriterien bemisst, die mit der Einzigartigkeit seiner Person nichts zu tun haben. Dem widersetzt sich die Liebe mit Nachdruck. Ihr widerspricht zutiefst, sich von Bedingungen abhängig zu machen; sie ist unbedingt. Wahre menschliche Liebe bezieht sich auf einen Menschen um seiner selbst willen, der seinerseits nicht seines Geldes oder Aussehens wegen geliebt werden will, sondern ausschließlich als er selbst. Eine Person ist reiner Selbstzweck. Wer wirklich liebt, verzichtet darauf, sich ein Bild vom geliebten Menschen zu machen, dem er oder sie genügen muss, um liebenswert zu sein. Mit Recht lässt Max Frisch in seinem Stück „Andorra“ einen Priester sagen: Du sollst dir kein Bildnis machen von Gott, deinem Herrn, und nicht von den Menschen, die seine Geschöpfe sind.

Gewiss, die vorgeburtliche Diagnostik verstößt als solche weder gegen die Moral noch gegen die Liebe. Doch sie fördert die Tendenz, das Lebensrecht ungeborener Kinder daran zu binden, inwieweit sie den Lebensidealen der Gesellschaft oder der Eltern entsprechen. Und das verstößt gegen Moral und Liebe gleichermaßen.

Die Kirche hat im Disput um Recht und Grenzen von Gentechnik und vorgeburtlicher Diagnostik neben ethischen Argumenten genau genommen wenig mehr einzubringen als diese eine, allerdings fundamentale Einsicht: Echte elterliche Liebe strebt nicht nach „Wunschkindern“ und „Designer-Babys“, sie sehnt sich nach „Gotteskindern“. Wer Kinder unabhängig von ihren genetischen oder sonstigen Fehlern sieht, ist weder blind noch blauäugig, sondern sieht sie einfach mit den Augen Gottes.

Franz Kamphaus